Moderne Persönlichkeitstypologien zwischen wissenschaftlicher und Alltagspsychologie

Das Projekt untersucht die Geschichte und Philosophie typologischer Ansätze dessen, was in unterschiedlichen Zeiten und Kontexten als Temperament, Charakter oder Persönlichkeit bezeichnet wurde. Der Fokus liegt darauf, wie solche Menschenkenntnis in Typologien gruppiert, geordnet und systematisiert wird. Dieses interdisziplinäre Projekt geht über die übliche Darstellung von Typologien entweder als nützliche Instrumente in Bereichen wie Bildung, Wirtschaft, klinische Diagnostik sowie den Geistes- und Sozialwissenschaften, oder als aufschlussreiches historisches Material für so manches dunkle Kapitel vor- oder pseudowissenschaftlicher Denkweisen über den Menschen hinaus und betrachtet Typologien stattdessen als einzigartigen Zugang für ein besseres Verständnis des komplexen und dynamischen Zusammenspiels von wissenschaftlicher und Alltagspsychologie. Das Projekt umfasst drei miteinander verbundene Studien.

Erstens wird in einer genealogisch-historischen Studie eine Reihe spezifischer Praktiken in Verbindung mit bestimmten Problematisierungen entlang dreier Verschiebungen untersucht: von antiken Praktiken der Wahrsagerei und Heilung (Expertenintuition) zu frühneuzeitlichen Methoden der Introspektion und Messung (Common Sense); von Typen (Hermeneutik) zu Traits (Statistik) im Laufe des 20. Jahrhunderts; und von individuellen Unterschieden (Variablen) zur «folk psychology» («biases») während der letzten Jahrzehnte. Es wird gezeigt, wie sich verschiedene Typologien, die sich auf den Körper (Tierkreis, Humorismus, Physiognomie, Phrenologie), die Psyche (Weltanschauungen, Psychoanalyse, Archetypen, Enneagramm) und die Kognition (MBTI, Intelligenz, Mindset, Stile) beziehen, zu einer äusserst produktiven Technologie eines Macht-Wissen-Komplexes entwickelt haben. Moderne Persönlichkeitstypologien liefen parallel zur diagnostischen Praxis der klinischen Psychiatrie und zum wissenschaftlichen Diskurs über die biologische Taxonomie und wurden nicht durch professionelle oder akademische Kritik untergraben, sondern dadurch in ihrer kulturellen Autorität inmitten der alltagspsychologischen Praxis gestärkt.

Zweitens bietet eine empirisch-psychologische Studie zunächst einen Überblick über relevante empirische Erkenntnisse in Bereichen wie der «folk psychology», der sozialen Kognition, der Prototypenforschung und der experimentellen Philosophie und führt darauf aufbauend eine Reihe experimenteller Studien durch, um zu untersuchen, wie Laien Typologien über die menschliche Natur einsetzen und über sie nachdenken. Drei mit dem psychologischen Essenzialismus assoziierte Forschungskonstrukte, nämlich natural kind concepts (Temperament), thick concepts (Charakter) und dual-character concepts (Persönlichkeit), werden herangezogen, um die Leithypothese zu testen und zu verfeinern, wonach Typologien in der alltagspsychologischen Praxis die bedeutende Funktion bedeutende, die Beziehungen zwischen Essenzen auf essentialistische Weise zu erhellen.

Drittens wird in einer normativ-philosophischen Studie ein pragmatisches Verständnis typologischer Ansätze über die menschliche Natur im Allgemeinen und moderner Persönlichkeitstypologien im Besonderen entwickelt. Ziel ist es weder, die Alltagspsychologie zu informieren, noch die Wissenschaft zu reformieren, sondern alternative Wege aufzuzeigen, wie sich das Selbst zwischen Akademie und Öffentlichkeit formen kann, und zwar indem Intuition, Typen und individuelle Unterschiede nicht in ihren historischen Problematisierungen (Wahrsagerei/Heilung, Hermeneutik bzw. Variablen) oder wissenschaftlichen Reduktionen (psychologischer Essentialismus) aufgegriffen werden, sondern in ihrem Potenzial als Technologien des Selbst und Repräsentationen der Selbsterkenntnis.

Das Projekt wird von der Nomis Foundation finanziert.

Mitwirkender

Pascal Kronenberger

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